Vorwort zur zweiten Auflage

"Anarchismus und Gegenwart" ist in erster Auflage 1951 beim Regio Verlag in Zürich erschienen. Das Buch suchte Antwort auf die Frage nach den anarchistischen Zeichen der Zeit zu geben.

Inzwischen ist ein knappes Vierteljahrhundert verflossen. In dieser Zeit haben sich einerseits die Zeichen des negativen Anarchismus vermehrt. Zentrale Institutionen unserer Gesellschaft werden zunehmend als illegitim betrachtet. Andererseits gilt gerade das Umgekehrte für den positiven Anarchismus der ein positives Verhältnis zu den unbekannten, ignorierten und verschwendeten Möglichkeiten der Wirklichkeit zu realisieren versucht. Das Erschrecken vor dieser Realität scheint maßlos zu sein. Obskurantismus und Dogmatismus, d. h. die Versuche, die Wirklich‑ und ihre Möglichkeiten einzuschränken, werden immer deutlicher sichtbar. Zudem betreffen die auffallendsten sozialen Neuerungen gerade Macht und Mittel der Gewalt. Das Gegenstück zum positiven
Anarchismus illustrieren am besten jene Intellektuelle, die sich selbst als Sklaven der Macht deklarieren und sich ihr in einem Maße unterwerfen, das weit über das hinausgeht, was diese Macht zu erzwingen vermag. Man baut sich ein Gefängnis, das viel weniger Freiheit zuläßt als die reaIe Machtstruktur, und weigert sich, dieses Gefängnis zu verlassen. Anders ausgedrückt, die Möglichkeiten, die sich gerade aus der Emanzipation von Herrschaftsideologien ergeben, werden nicht nur benutzt, sondern in autoritärer Weise negiert oder sogar verstopft. Der Autoritarismus hat sich seit langem nicht mehr so deutlich zu erkennen gegeben wie gerade in dem Augenblick, in dem neue Möglichkeiten entstanden sind und sich der menschliche Aktionsraum vergrößert hat.

Zudem dürfte es ein leichtes sein, jene imaginären Gefängnisse in reale umzugestalten, und dann bleibt nichts mehr von der Emanzipation übrig, die sich in den anarchistischen Zeichen der Zeit angekündigt hat. Desto wichtiger scheint es mir, daß selbst bescheidene Möglichkeiten in herrschaftsarmen Räumen realisiert werden und damit Zeugnis ablegen von dem menschlichen Lern‑ und Neuerungspotential.

Zürich, Juni 1973 ‑ Peter Heintz